„Gibt es etwas Wichtigeres als das Leben selbst?“
Wir leben in einer Zeit, in der Menschen für ihre Meinung auf die Straße gehen. Vor allem beschäftigen uns der ausbeuterische Umgang mit der Natur oder die Anerkennung von Menschenrechten. Haben Designer Einfluss auf solche Entwicklungen? Oder andersrum: Beeinflusst unsere Wahrnehmung dieser gesellschaftlichen Rahmenbedingungen die Ideen von Kreativen?
Auf dem Pure Campus Forum der imm cologne 2020 erörterten die Teilnehmer der Diskussionsrunde diese Fragen. Mit dem Design-Journalisten und Trendforscher Frank A. Reinhardt spricht Jeannette Altherr über die Komplexität der Nachhaltigkeitsfrage als Herausforderung für Designer, Unternehmen und Konsumenten. Und zeigt, dass Lösungen im ganzheitlichen Denken zu suchen sind – eine Momentaufnahme in der Debatte um Nachhaltigkeit in der Einrichtungsbranche.
Im Rahmen des Pure Campus Forums fand die Diskussionsrunde zum Thema „Welchen Einfluss haben Designer auf das Leben der Zukunft?“ statt. Teilnehmer waren: Frank A. Reinhardt (far.consulting) Jeannette Altherr (Studio ADP), Martin Hirth und Matthias Oesterle (Phoenix Design). Foto: Koelnmesse
Frank A. Reinhardt: Die Verknüpfung der Themen Wohnen und Natur war lange eine aus der Öko-Bewegung heraus betriebene Diskussion um schadstoffarme Möbel – und damit eher eine Frage nach der Gesundheit des Wohnens als nach der Gesundheit des Weltklimas. Das hat sich deutlich geändert. „Grünes Wohnen“ misst sich heute an Aspekten wie Klimaneutralität und Nachhaltigkeit des Designs – eine sehr komplexe Situation. Rührt daher vielleicht die Sehnsucht nach einer neuen Einfachheit, die sich auch bei den Entwürfen vieler junger Designer zeigt? Wie hältst du es in deiner Arbeit?
Jeannette Altherr: Schon immer haben wir uns mit „Essentialismus“ identifiziert – der Unterschied zur Einfachheit ist, dass es uns weniger um rein formale Aspekte geht. Vielmehr geht es um die Suche nach dem, was wichtig ist. Und gibt es etwas Wichtigeres als das Leben selbst? Unser Gefühl von Schönheit und unsere Vorstellung von einem guten Leben sind eng miteinander verknüpft. Wir wissen vielleicht nicht immer, was schön ist, aber wir wissen genau, was nicht schön ist: Verarmung, Vergiftung, Reizlosigkeit.
Wir erleben gerade, dass sich unsere Vorstellung von Natur als „dem anderen“ ändert – vom reinen Ressourcen-Provider zu der Idee von Natur als eines eigenständigen Living Systems. Dass wir Teil dieses lebendigen Systems sind. Und nicht etwas darüber Stehendes. Balance ist dabei ein wesentlicher Aspekt. Diese Entwicklung wird sicher verändern, was wir als schön empfinden.
Jeannette Altherr
Designerin
Frank A. Reinhardt: Die Diskussion in den sozialen Medien zeigt deutlich, dass die Menschen sich auch Orientierung in Hinsicht auf die Nachhaltigkeit der Produktkonzepte von Designern erhoffen. Das ist wohl oftmals der Ausdruck einer großen Orientierungslosigkeit, die durch das Greenwashing noch verschärft wird. Werden Designer mit einer solchen Erwartung nicht schnell überfordert?
Jeanette Altherr: Der Druck fängt zuallererst bei mir selber an. Solange Produktdesign sich in Konsumgüter verwandelt, ist man als Designer eng mit dem grundsätzlichen Problem von Overconsumption verbunden. Den Architekten geht es ähnlich. Deswegen stellen sich viele Gestalter im Moment die Frage, ob, was und wie man überhaupt noch mit gutem Gewissen entwerfen kann. Mich zumindest hat es in eine echte Krise geworfen.
Dazu kommt die enorme Komplexität unseres Moments. Zu begreifen, dass Widersprüche nebeneinander und auch in uns selbst bestehen, dass es auf vieles keine einfache eindeutige Antwort gibt: Wir sind alle Teil eines großen kollektiven Lernprozesses. Denn es sind nun einmal unglaublich viele Faktoren zu berücksichtigen: von der Materialherkunft über die Produktionsbedingungen, Energieeinsatz, Qualität/Langlebigkeit, lange Nutzung durch flexiblen Einsatz, Service-Bedarf, Transportkosten und Verpackung bis hin zur Recycelbarkeit. Und dazu kommen noch die sozialen Aspekte.
Ich denke, dass sich die Idee davon, was Design sein kann, erweitern wird: über das Produzieren von Produkten hinaus. In „Broken Nature“ haben mich zum Beispiel besonders die Beispiele des Bewahrens, des Festhaltens und Dokumentierens bewegt. Und die Beispiele, in denen die Dramatik der Weltlage veranschaulicht wurde. Wissenschaftliche Erkenntnis allein wird nicht zu einem Umdenken führen. Wir müssen schon vom Wissen zum Verstehen kommen.
Jeannette Altherr
Designerin
„Ich denke, dass sich die Idee davon, was Design sein kann, erweitern wird, über das Produzieren von Produkten hinaus“, wagt Jeannette Altherr einen Blick in die Zukunft. Foto: Koelnmesse
Frank A. Reinhardt: In der Einrichtungsbranche verläuft der Diskurs um Nachhaltigkeitsmodelle etwas ruhiger als beispielsweise in der Ernährungsindustrie. Hier brauchen Erfahrungen länger, Lernprozesse sind mit höheren Investitionen verbunden. Gleichzeitig muss sich die Möbelindustrie jedoch darauf einrichten, dass mit Nachhaltigkeitsargumenten promotete Rohstoffe, wie zum Beispiel Holz, auch einmal knapp werden können.
Jeanette Altherr: Ja, gerade unter dem Eindruck der verheerenden Feuer im Amazonasgebiet und noch mehr in Australien dieses Jahr. Man fängt an zu hinterfragen, ob man Bäume nur noch als nachwachsenden Rohstoff sehen kann. Ob „neu“ angesichts des Überangebots überhaupt noch so positiv besetzt ist wie früher. Ob hochwertiges Slow Design, das repariert, verändert. Oder Secondhand, das weiterverwendet werden kann, nicht die bessere Wahl ist. Mit solchen Szenarien muss sich die Branche frühzeitig auseinandersetzen. Wir müssen alles vorurteilslos durchdenken
Frank A. Reinhardt: Gut, 100prozentig nachhaltige Lösungen gibt es nicht – genauso wenig wie das perfekte Produkt. Der Konsument muss also abwägen lernen. Das ist ein Lernprozess, den man ihm zumuten muss. Doch niemand will der erste sein, der dabei unter die Räder kommt.
Jeanette Altherr: Die Debatte ist so emotional aufgeheizt, und wir sind so unter Schock, dass wir das dringende Bedürfnis haben, ganz schnell etwas zu tun. Was oft zu vereinfachten Antworten führt. Denn: Ist es wirklich besser, Plastiktüten durch Stofftaschen zu ersetzen? Um dann zig Stofftaschen zu bekommen, die man doch nie benutzt? Oder Plastikstrohhalme durch Metall oder Glasstrohhalme zu ersetzen?
Wenn man bis zu 3000 Mal einen Trinkbecher benutzen muss, bis die zu seiner Herstellung aufgewendeten Ressourcen diejenigen der Plastikbecher unterschreitet – soll man dann also doch weiterhin auf Plastik setzen? Tatsächlich müssen wir viel grundsätzlicher ansetzen: in Lebenszyklen denken. Es reicht nicht, beim Wegwerfsystem zu bleiben und einfach nur die Materialien zu ersetzen.
Frank A. Reinhardt: Und gleichzeitig müssen wir schnell lernen zu differenzieren. Keiner stellt infrage, dass die Meere vom Plastikmüll befreit werden müssen. Aber die reflexartige Verteufelung des Kunststoffs greift zu kurz. Zum einen ist aus fossilen Rohstoffen gewonnener Kunststoff eine sehr wertvolle und knappe Ressource. Die etwa in medizinischen Bereichen – zumindest heute noch – unersetzlich ist. Auf der anderen Seite wird diese Ressource etwa durch die Verpackungsflut einer immer stärker auf Convenience-Produkte setzenden Konsumgesellschaft vergeudet.
Jeanette Altherr: Und genauso wenig, wie Plastik global des Teufels sein kann, löst Bioplastik das Plastikproblem – denn es hat seine ganz eigenen Herausforderungen. Die Frage ist doch: welches Material ist wo wirklich sinnvoll? Langlebiger Kunststoff für Möbel oder Geräte ist doch nicht dasselbe wie Wegwerfplastik.
Jeannette Altherr
Designerin
Mit der Verwendung von Massivholz und natürlich gegerbtem Rhabarberleder setzt burgbad bei seiner Kollektion aus der Feder des Designstudios Altherr Désile Park auf natürliche Materialien. Foto: Constantin Meyer, burgbad
Frank A. Reinhardt: Die Herausforderung nachhaltigen Wirtschaftens für Unternehmen liegt darin, die Komplexität von Nachhaltigkeit anzunehmen und transparent zu machen. Aber sie müssen vereinfacht dargestellt werden, um die eigenen Antworten und Lösungen auch effektiv kommunizieren zu können.
Jeannette Altherr: Ich glaube, das zentrale Wort dabei ist „Prozess“. Das braucht Zeit und Erfahrung. Arper beispielsweise beschäftigt schon seit 2005 ein Sustainability Department, das sich von Anfang an um einen Life Cycle Assessment Ansatz bemüht hat – sehr anspruchsvoll und der einzige der mir wirklich konsequent erscheint. Zertifikate sind manchmal bürokratische Importhemmer. Zertifikate wie EPD sind aber auch der Weg, Produkte transparent, messbar und damit vergleichbar zu machen. Erst das ermöglicht es überhaupt, eine bewusste Wahl zu treffen.
Man sollte das Thema Design und Nachhaltigkeit auch nicht nur auf die CO2-Reduktion beschränken. Design und Antworten reichen von Ökologie, Konservierung, restaurativem Design, Bio-Design, Energieeinsparung, Wiederverwendung, Recycling, Lebenszyklus-Modellen usw. bis hin zur Bewusstseinsbildung für die Schönheit der Dinge und zum Schutz dessen, was man liebt
Jeannette Altherr
Designerin
Frank A. Reinhardt: Es ist spannend zu sehen, wie die Debatte um Nachhaltigkeit Wellen in alle Richtungen schlägt – nicht nur in Hinsicht auf Konsum, sondern auch auf Sozialstandards und Lifestyle. Die Klimakrise ist eine Herausforderung für sämtliche Bereiche unserer Gesellschaften. Dreht man an einer Schraube, verändert sich die gesamte Dynamik – sei es der Golfstrom oder die globalen Finanztransaktionen. Liegt gerade darin nicht auch eine Chance?
Jeannette Altherr: Ja, auch eine Gesellschaft lernt. Und auch Unternehmen entwickeln sich und reagieren auf Erkenntnisse. Auch sie teilen dieselben Erfahrungen und verändern sich dadurch. Ein Unternehmen wie Arper, wo dieser Prozess schon 15 Jahre lang läuft, fühlt sich dadurch vielleicht auch ermutigt. Und kommuniziert seine Aktivitäten stärker – trotz der Gefahr, sich dem Vorwurf des Greenwashings auszusetzen. Und nur, weil man es in einer Medienwelt keinem wirklich recht machen kann, sollten wir uns nicht vor den notwendigen Schritten scheuen, um den Erfahrungsprozess in Gang zu halten.