Das Haus 2015 – Interiors on Stage
Wo unsere Seele wohnt
„Unser Ziel ist es, Konventionen zu hinterfragen, und zwar auf mehreren Ebenen“, erläutert Rossana Hu die diskussionsfreudige Haltung des Architektenpaares aus Shanghai. „Zunächst einmal: Muss ein Wohnzimmer wirklich immer so aussehen: ein Sofa, zwei bequeme Polstersessel und ein zentraler Couchtisch? Oder kann man das auch ganz anders auffassen? Wie kommen wir zu etwas Einzigartigem, etwas, das uns herausfordert und anders ist als das, was wir aus den letzten zehn Jahren gewohnt sind?“
Im „Haus“ von Neri&Hu erscheinen Wohnrituale in Möbel gegossen – Archetypen unserer Wohntraditionen, die nicht ganz konventionell in Szene gesetzt wurden, um genau diese unsere Wohngewohnheiten zu entlarven und zu hinterfragen. Neri&Hu haben einen Parcours gestaltet, der europäische Designtradition voller Respekt aufnimmt, um sie zu feiern und gleichzeitig zu überwinden. Damit haben sich die Erwartungen der imm cologne an die diesjährigen Guests of Honor erfüllt, denn tatsächlich bringen sie eine ganz neue Perspektive in die Reihe „Das Haus – Interiors on Stage.“
Von außen sehen die dunkelgrau gestrichenen Wände, die sich auf den ersten Blick gar nicht so sehr von der umliegenden Messearchitektur des Pure Village unterscheiden, wenig einladend aus. Lediglich die unregelmäßigen Fensterausschnitte in die „Wohnkäfige“, wie Neri&Hu die Behältnisse für unsere Wohnobjekte nennen, lassen schon von außen erkennen, dass in diesem Gebilde mehr steckt als kühle Ästhetik – nämlich ein einzigartiges, sinnliches Gesamtkunstwerk aus Architektur, Design, Interior Design, Kunst und Philosophie.
Architektonisch präsentiert sich „Das Haus“ 2015 als kompakte, urbane Komposition: Fünf hohe, allseits umschlossene Räume bilden ein spannendes Ensemble um einen großen, als halböffentlichen Wohnraum konzipierten Innenhof. Durch diese verdichtete Architektur führt eine Brücke, die auf ihrem Zick-Zack-Weg durch und über „Das Haus“ die Räume an verschiedenen Stellen überschneidet, Wände durchbricht, sich über Esstische schwingt und dem Besucher genau berechnete Einblicke in die Wohnrauminstallationen erlaubt.
Dabei zeigt sich „Das Haus“ von innen viel wohnlicher als von außen. Dafür sorgen nicht nur der von Dinesen gesponserte Holzboden und die Fliesen von Mutina, sondern auch ein ausgeklügeltes Farbkonzept von NSC Colour, mit dessen Hilfe Neri&Hu für „Das Haus“ eine Farbpalette von gedeckten Tönen spezifiziert haben, die von den traditionellen Shanghaier Gassen, den Nongtangs, inspiriert ist – von Efeu-überwucherten Häusern, rot gestrichenen Türen und Wänden mit abblätterndem Putz.
Die fünf Räume stellen jeder für sich ein Statement über die Geschichte unserer Wohnkultur dar, aber auch einen Vorschlag dazu, welche Nutzungsmöglichkeiten ein solcher Raum jenseits der Wohnkonventionen in sich birgt. Da gibt es den blau gestrichenen „Raum zum Schlafen“, in dem es außer dem schlichten, von Neri&Hu eigens für „Das Haus“ entworfenen Bett Single wenig gibt, was an ein konventionelles Schlafzimmer erinnert. Es ist dem Kind (in uns) gewidmet, und ein Gedicht des chinesischen Dichters Bian Zhi Lin fügt dem Interior Design von Neri&Hu eine reflektive Ebene hinzu: „When you watch the scenery from the bridge,/The sightseeer watches you from the balcony./The bright moon adorns your window,/While you adorn another’s dream.“ heißt es dort – ein Zitat, das das für Neri&Hu typische voyeristische Element aufnimmt. „In letzter Konsequenz wollen wir ein voyeuristisches Erfahren von Innenwelten ermöglichen, das persönliche Erinnerungen aufspürt, offenbart und in Frage stellt“, formulieren Neri&Hu denn auch ihren Anspruch an das Projekt „Das Haus“.
Das Muster von Widmung, Farbgebung und Zitat wiederholt sich in den übrigen vier Räumen: im grün gehaltenen, dem kunstfertigen Küchenchef gewidmeten „Raum zum Essen“, im dunkelrot leuchtenden, dem Liebhaber zugedachten „Raum zum Baden“, im anregend gelb gestalteten Studierzimmer des Poeten mit dem Titel „Raum zum Lesen“ bis hin zum hellgrauen „Raum zum Wohnen“, in welchem Walter Benjamin mit seiner These über die durch Reproduzierbarkeit möglich gewordene Loslösung der Kunst vom Ritual zitiert wird.
Die Struktur der abgeschlossenen Räume präsentiert unser traditionelles Wohnkonzept als „Käfig-artige Einhegung“, demzufolge unser Zuhause sowohl einen Zufluchtsort darstellt als auch einen Käfig für unseren Besitz und unsere Wohnrituale. „Unser ‚Haus‘ soll die Menschen beunruhigen“, gibt Lyndon Neri offen zu, „denn wir wollen sie herausfordern, sodass sie nicht nur eine Messe mit den schönsten Möbeln und besten Materialien sehen, wenn sie ‚Das Haus‘ verlassen, sondern wirklich anfangen zu hinterfragen, wo wir heute stehen – gerade auch in China. Ob wir Möbel in der richtigen Weise gebrauchen? Wie viele wir brauchen? Und was das eigentlich wirklich ist: das Heim.“
Tatsächlich präsentiert „Das Haus“ 2015 aber nicht nur eine ganze Reihe von Designklassikern, sondern auch etliche Produkte sowie exklusive Produktneuheiten von Neri&Hu. Da ist beispielsweise das Sofa Jian von Gandia Blasco oder die zwei neuen Teppiche von Nanimarquina mit den Namen Blur und Street; die neue Leuchtenserie Lantern von Parachilna erinnert an chinesische Lampions, und für das Bad entwarf das Studio für die Eigenmarke Neri&Hu ein Communal Tub, das an die asiatische Badetradition anknüpft und das Bad zu einem gemeinschaftlichen Erlebnis – etwa eines Liebespaares – machen soll.
Gleich eine ganze Kollektion, entworfen für De La Espada, entwickelt die Idee von Neri&Hu weiter, dass bestimmte Möbel Gemeinschaftserlebnisse stiften können: Communal Stool, Table und Bench in puristischem Design sind wie gemacht für das urtümlichste aller Gemeinschaftsrituale – das Essen. Dabei greift der Communal Table auch noch die in China weit verbreitete Tradition der „Lazy Susan“ auf, einer mittig installierten Drehplatte zur Aufnahme der Servierschüsseln.
Neben dem Bett Single und einer Reihe dekorativer Kerzenleuchter (beides für Neri&Hu) stellt das Shanghaier Studio in „Das Haus“ auch ein weiteres Möbel-Highlight vor: den neuen Sedan Chair für Classicon, der den erfolgreichen Lounge Chair von 2013 um einen leichten, eleganten und komfortablen Stuhl in gleicher Materialität ergänzt und sich insbesondere für den Einsatz am Tisch und im Objektbereich anbietet.
Die Stadt, so zitieren Neri&Hu den Schriftsteller Italo Calvino, wird erst mit den Zeichen unseres überquellenden Gedächtnisses lebendig. Und so spielt der doppeldeutige Titel „Memory Lane“ sowohl auf die urbane Tradition der Shanghaier Gassen an, die durch enge nachbarschaftliche Beziehungen gekennzeichnet sind, als auch auf die Pfade der Erinnerung, die der Besucher mit dem Gang durch die Installation nachzuvollziehen eingeladen ist.
Dabei ist das Konzept der Installation vom räumlichen Erlebnis eines Shanghaier „Lane House“ abgeleitet. Dieser für das glamouröse Shanghai der 30er-Jahre so charakteristische Gebäudetyp – einer Fusion aus chinesischer, um einen lebendigen Innenhof organisierter Wohntradition und westlich geprägten, aneinandergereihten und mehrstöckigen Stadthäusern – droht in der schnelllebigen Metropole mehr und mehr zu verschwinden. Neri&Hu interpretierten ihn neu, wobei sie die Nutzung des über versetzte Ebenen angelegten und über ein zentrales Treppenhaus erschlossenen Hauses durch mehrere Parteien aufnahmen.
Das Lane House wie auch „Das Haus“ von Neri&Hu definieren die Übergänge von öffentlichem und privatem Bereich, von traditioneller und offener Raumnutzung als fließend. Und so vereint ihr „Haus“ auch gleichermaßen museale wie visionäre Inhalte. Inmitten der internationalen Einrichtungsmesse imm cologne erzählt es eine Geschichte des Wohnens, die in assoziativen Bilder das Gestern wie das (mögliche) Morgen zeigt.